Die durch die Pandemie ausgelöste Wirtschaftskrise könnte sich zu einer „sozialen Krise“ entwickeln und ausweiten, warnt EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni. Er fordert daher unter anderem eine stärkere Beteiligung der Gewerkschaften an der Ausarbeitung der nationalen Konjunktur- und „Wiederaufbaupläne“.
Die Markteinführung von Impfstoffen habe etwas Hoffnung im Kampf gegen die Pandemie gebracht, „aber selbst wenn wir beginnen, das Licht am Ende des Tunnels zu sehen, wissen wir nicht, wie lang dieser Tunnel noch sein wird“, warnte Gentiloni auf einer Veranstaltung der Wirtschaftsdirektion der EU-Kommission und des Europäischen Gewerkschaftsbunds (EGB).
Eine dritte Welle des Virus und erneute Einschränkungen seitens der nationalen Regierungen dürften die wirtschaftliche Erholung auf EU-Ebene belasten, während das Risiko eines erneuten Abschwungs sogar steige.
„Wir befinden uns an einem Scheideweg, mit dem Risiko, dass sich die Pandemie in eine soziale Krise verwandelt,“ so Gentiloni während der Videokonferenz. „Aber wir haben auch die Chance, unsere Union mit einer Politik für Wachstum und Beschäftigung wiederzubeleben.“
Der 800-Milliarden-Euro-Konjunkturfonds der EU soll die europäische Wirtschaft ankurbeln. Die Mitgliedsstaaten arbeiten dafür aktuell an der Fertigstellung ihrer nationalen „Recovery-Pläne“ und stehen dabei in engem Kontakt mit der Kommission. Man will sicherstellen, dass die jeweiligen Chargen des Fonds möglichst schnell mobilisiert werden.
Doch um die Qualität dieser Investitions- und Reformpläne zu gewährleisten, „ist die Beteiligung von Interessengruppen, insbesondere der Gewerkschaften, absolut entscheidend“, betonte Gentiloni. Faktisch sei diese Beteiligung aber „noch nicht zufriedenstellend“.
Der italienische Kommissar erklärte weiter, ohne das Einbeziehen der Gewerkschaften werde es für die nationalen Regierungen „viel schwieriger“, Reformen in Bezug auf Arbeitsmärkte und Rentensysteme voranzutreiben, die von den nationalen Regierungen im Austausch für EU-Gelder gefordert werden.
Der soziale Dialog dürfte während dieses aktuellen Halbjahres in jedem Fall eine wichtige Rolle spielen. Portugals Regierung hat bereits betont, man wolle der Sozialpolitik während der aktuellen Ratspräsidentschaft in den Mittelpunkt stellen.
Nationale Aufbaupläne und der Wachstumspakt
Die Kommission ist mit der laufenden Arbeit an den nationalen Konjunkturprogrammen allerdings nicht vollends zufrieden. Erst vergangene Woche forderte die EU-Exekutive die Mitgliedsstaaten auf, in ihren Investitions- und Reformentwürfen präziser und ehrgeiziger zu sein.
Gentiloni betonte seinerseits die Notwendigkeit, den fiskalischen Kurs seitens der EU in den kommenden Monaten als Unterstützungsmaßnahme beizubehalten. Das beinhaltet auch die weitere Aussetzung der Schulden- und Defizitregeln der EU, die zu Beginn der COVID-19-Krise beschlossen wurde.
„Eines der Hauptthemen, die in den Mitgliedsstaaten diskutiert werden müssen“, werde sein, wie und wann man diese Aussetzung auslaufen lassen könne, sagte er und machte deutlich: „Aus unserer Sicht sollten wir einen vorzeitigen und zu frühen Ausstieg vermeiden. Denn wir müssen das Risiko einer Double-Dip-Rezession bekämpfen.“
Die Kommission und die Mitgliedsstaaten haben sich bereits darauf verständigt, die aktuellen EU-Konjunkturmaßnahmen in diesem Jahr beizubehalten. Bis zum Ende des ersten Halbjahres 2021 will die EU-Exekutive die Diskussion darüber eröffnen, ob der Stabilitäts- und Wachstumspakt im kommenden Jahr 2022 dann wieder reaktiviert werden soll.
Diese Diskussion ist ohnehin Teil der laufenden Überprüfung des Paktes durch die Kommission, die im vergangenen Februar eingeleitet, aber durch die Pandemie unterbrochen wurde. Einige Länder, darunter das Schwergewicht Frankreich, wollen die teils umstrittenen EU-Fiskalregeln erst wieder in Kraft setzen, wenn diese geändert worden sind.
Es wird erwartet, dass die Kommission ihre Vorschläge für die Überprüfung des Stabilitäts- und Wachstumspakts in diesem Jahr vorlegen wird. Ein genaues Datum steht allerdings noch nicht fest.
Gentiloni jedenfalls schloss seinerseits, die neue Fiskalpolitik der EU müsse den „grünen Übergang“, das Wachstum und vor allem die Nachhaltigkeit unterstützen, sowohl aus sozialer als auch aus ökologischer Sicht.
[Bearbeitet von Frédéric Simon und Tim Steins]