Wie wollen wir arbeiten? EU-Betriebsräte fordern gerechten Übergang & Mitbestimmung

Gemeinsam anpacken und solidarisch sein ist in multinationalen Unternehmen nicht immer so einfach. [fuyu liu | Shutterstock]

Die Zukunft der Arbeit klopft an die Tür: Digitalisierung und die Bemühungen um eine Dekarbonisierung der Industrie haben bereits begonnen, das Gesicht der Beschäftigung zu verändern. Angesichts der sich abzeichnenden radikalen Veränderungen am Arbeitsplatz wollen Gewerkschaften und andere VertreterInnen von Arbeitnehmenden Wege aufzeigen, die den Übergang für alle Beteiligten fair gestalten.

„Wir stehen an der Schwelle einer technologischen Revolution, die unsere Art zu leben, zu arbeiten und miteinander in Beziehung zu treten, grundlegend verändern wird. In seinem Ausmaß, seiner Tragweite und seiner Komplexität wird dieser Wandel anders sein als alles, was die Menschheit bisher erlebt hat,“ schrieb der Gründer und Vorsitzende des Weltwirtschaftsforums in Davos, Klaus Schwab, bereits 2016.

Die sogenannte „Vierte Industrielle Revolution“ hat bereits begonnen, die Arbeitswelt grundlegend zu verändern. Die neuen Technologien sowie das Streben nach einer möglichst CO2-freien Industrie bieten sowohl neue Chancen als auch beispiellose Herausforderungen.

Gewerkschaften fordern "neuen Sozialvertrag" zur Förderung der Energiewende

Gewerkschaften sind der Ansicht, dass ein „neuer Sozialvertrag“ dazu beitragen könnte, die Arbeitnehmer in die Transformation einzubeziehen, und den Übergang voranzutreiben, anstatt ihn aufzuhalten.

Und für viele Beschäftigte wird dieser Wandel buchstäblich jede Facette ihres Arbeitslebens betreffen. Eine kürzlich von IndustriAll Europe – einem Verband europäischer Gewerkschaften aus den Sektoren Metall, Chemie, Energie, Bergbau, Textil, Bekleidung und Schuhe – und der European Chemicals Employers Group (ECEG) durchgeführte Studie hat die Tiefe dieser Veränderungen für die Arbeitnehmenden in der chemischen Industrie aufgezeigt.

Die Arbeitsumfelder werden immer mobiler und bieten immer mehr Möglichkeiten für Fernarbeit. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass immer mehr sich wiederholende Aufgaben von digitalen Tools oder Künstlicher Intelligenz (KI) übernommen werden. Daher wird von den Beschäftigten verlangt, neue Fähigkeiten zu erlernen und an Umschulungsprogrammen teilzunehmen: „Lebenslanges Lernen ist keine Option mehr. Es ist ein Muss,“ betont beispielsweise Maike Niggemann, Politikberaterin bei IndustriAll Europe.

Die Wende und ihre Auswirkungen

Viele Arbeitnehmende spüren bereits die Auswirkungen dieses Wandels – und das bei Weitem nicht nur im positiven Sinne. Die Digitalisierung hat zwar die Effizienz gesteigert, aber auch Auslagerungen und Arbeitsplatzverluste bedeutet. Ein prominentes Beispiel ist seit Kurzem der Fall der Personalabteilungen: Einst eine eigenständige Abteilung vor Ort, haben viele Unternehmen ihre „HR-Abteilungen“ inzwischen nach Übersee, zum Beispiel nach Indien, verlagert.

Doch auch in anderen Fällen und Branchen zeichnen sich Veränderungen und Unsicherheiten ab, insbesondere im Hinblick auf den europäischen Green Deal und den Zeitplan für die Klimaneutralität bis 2050.

Die Energiewende ist auch eine soziale Frage

Polnische Experten fordern einen „Fonds für eine gerechte Energiewende“ zur Unterstützung der Kohlearbeiter des Landes.

Ein Beispiel für ein derart betroffenes Unternehmen ist die HeidelbergCement AG. Norbert Steinert, Vorsitzender des EU-weiten Betriebsrats dieses Unternehmens, erklärt, man arbeite zwar an der Verringerung des ökologischen Fußabdrucks, an Forschung zur Kohlenstoffabscheidung und an neuen Wegen zur Herstellung von Zement sowie am Kauf von Kohlenstoffkrediten.

Doch das Ziel des Green Deal, bis 2050 klimaneutral zu werden, lasse das Unternehmen bisher weitgehend im Ungewissen, insbesondere was den Verlust von Arbeitsplätzen betrifft: „Ich stelle den Führungsebenen grundlegende Fragen: Was bedeutet das für uns? Wie wird der Weg in die Zukunft aussehen? Aber im Moment können sie mir keine Antworten geben,“ konstatiert Steinert gegenüber EURACTIV.

Umschulung & Mitbestimmung

Im sogenannten Fonds für einen gerechten Übergang des europäischen Green Deal ist ein Budget für die Umschulung von Arbeitnehmenden vorgesehen, die von Arbeitsplatzverlusten betroffen sind. Aus dem EU-Haushalt und den Investitionen des Privatsektors sollen im kommenden Jahrzehnt insgesamt 143 Milliarden Euro mobilisiert werden.

Zusätzliche Mittel für die Ausbildung stehen im Europäischen Sozialfonds (ESF) und im Europäischen Fonds für die Anpassung an die Globalisierung (EGF) zur Verfügung.

Aus Sicht derer, die die Arbeitnehmenden vertreten, gehen diese Mittel jedoch nicht weit genug: „Es steht überhaupt nichts [im Green Deal] über die Rechte der Arbeitnehmenden… Es wird keinen gerechten Übergang geben, wenn wir nicht alle einbezogen werden. Wir müssen alle einbezogen werden,“ macht Aline Conchon von IndustriAll Europe unmissverständlich klar.

Vielmehr sollte sich die EU-Kommission ihrer Meinung nach auf die Diskrepanzen in der Mitbestimmung der Arbeitnehmenden unter den Mitgliedstaaten konzentrieren und zumindest einen gewissen Mindeststandard garantieren.

Gewerkschafter: Von der Leyen muss liefern

Ursula von der Leyen muss sozialpolitisch liefern – am besten „schon im ersten Monat“ ihrer Amtszeit, so der Vorsitzende der Arbeitnehmergruppe im EWSA.

Ungleiche Mitspracherechte

Tatsächlich sind die Gesetzgebungen, die die Mitbestimmung garantiert – also die Präsenz der Arbeitnehmenden in Verwaltungsräten, die ihre Verhandlungsfähigkeit mit den Unternehmensleitungen stärkt – nicht überall in der EU einheitlich geregelt.

Deutschland, beispielsweise, hat eine lange Geschichte der Mitbestimmung, die bis in die Weimarer Republik mit ihrem Betriebsrätegesetz von 1920 zurückreicht – das zwar 1934 von der Diktatur der Nationalsozialisten eingestampft wurde, bis heute aber die Grundlage für das Betriebsverfassungsgesetz bildet. Heute sind Unternehmen mit mehr als 2.000 Beschäftigten verpflichtet, die Hälfte der Sitze im Aufsichtsrat des Unternehmens für Arbeitnehmervertretende zu reservieren. Elf weitere EU-Länder haben ähnliche Garantien, sowohl für privatwirtschaftliche als auch für staatliche Unternehmen.

In Ländern wie Polen, Spanien und der Tschechischen Republik gibt es derartige Regelungen aber nur für staatliche Unternehmen; und in Italien, Belgien und Estland (und weiteren) ist die Arbeitnehmendenvertretung in den Aufsichtsräten auf einige wenige Ausnahmefälle beschränkt.

Auf europäischer Ebene wurde 1994 durch eine Richtlinie die Einrichtung von EU-weiten Betriebsräten möglich gemacht. In diesen „European Works Councils“ (EWCs) kommen die ArbeitnehmendenvertreterInnen aus allen europäischen Ländern zusammen, in denen ein Unternehmen tätig ist. Die zentrale Unternehmensleitung unterrichtet diese Vertretenden dann über Themen, die die transnationalen Aktivitäten des Unternehmens betreffen.

Bei diesen multinationalen Unternehmen wirken sich jedoch die Unterschiede in der nationalen Gesetzgebung weiterhin auf die Mitwirkung der Arbeitnehmenden und die Wirksamkeit der EWCs aus: Heinz-Georg Webers, Vorsitzender des Betriebsrats Bergkamen der Bayer AG, betont, dass er als Deutscher zwar die Befugnis habe, mit seiner (also: deutschen) Unternehmensleitung zu verhandeln, dies aber nicht mit seinen KollegInnen im gesamten Block der Fall sei: „Ich vermute, wenn Aktionen außerhalb Deutschlands angestoßen werden, gehen sie anders aus,“ sagt er.

"Der Sozialvertrag ist kaputt": Ein Drittel der Gewerkschafter stimmte rechts

Der europäische Sozialvertrag ist gescheitert und integrative Wirtschaftspolitik sollte nun ganz oben auf der Agenda der nächsten Europäischen Kommission stehen.

"Gerechte Energiewende": Wer kriegt die EU-Gelder?

Die Europäische Kommission hat bekannt gegeben, welche Regionen der EU für die insgesamt 7,5 Milliarden Euro an Geldern aus dem Fonds für einen gerechten Übergang in Frage kommen.

Ein Fonds für den gerechten Übergang – und viele Fragezeichen

Die Europäische Kommission hat am Dienstag ihre lang erwarteten Pläne „für einen gerechten Übergang“ präsentiert. Zweifel gibt es aber in Bezug auf die Höhe der für das nächste Jahrzehnt vorgesehenen Mittel.

Abonnieren Sie unsere Newsletter

Abonnieren