EU-Kommissar Nicolas Schmit hat am Mittwoch (28. Oktober) Vorschläge der Kommission für Mindestlohnregelungen in der EU vorgestellt. Er machte dabei deutlich: Sollte beispielsweise in Bulgarien (dem Land mit den aktuell niedrigsten Löhnen in der EU) und seinem Heimatland Luxemburg umgehend der gleiche EU-Mindestlohn eingeführt werden, „würde es am nächsten Tag keine bulgarische Wirtschaft mehr geben“.
Schmit, bei der Kommission zuständig für Arbeitsplätze und soziale Rechte, präsentierte gestern den Kommissionsvorschlag für eine EU-Richtlinie, mit der sichergestellt werden soll, dass mehr Arbeitnehmende in der EU ein Recht auf Mindestlöhne haben. Diese sollten einen angemessenen Lebensstandard ermöglichen, wo auch immer die Menschen innerhalb der EU arbeiten.
Das besagte Mindesteinkommen in Bulgarien beträgt übrigens umgerechnet 312 Euro – in Luxemburg liegt es bei 2.071 Euro.
Aber: Ungleichheiten dürfen nicht zu groß werden
In seinen Ausführungen betonte Schmit, es sei schwierig, die Vorzüge des Binnenmarktes zu verteidigen, wenn das Lohngefälle innerhalb der Union zu groß sei.
Eine “Aufwärtskonvergenz für gerechte Löhne“ ist daher ein Schlagwort im Kommissionsvorschlag. Wie diese Konvergenz erreicht werden soll, ist freilich weniger klar: Gesprochen wird lediglich von der Notwendigkeit, „den sozialen Dialog und Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung zu fördern“.
Auf Nachfrage von EURACTIV.com, ob eine solche weitgehende Konvergenz zwischen den EU-Löhnen tatsächlich jemals erreichbar sein werde, antwortete Schmit, es komme vor allem darauf an, auf welcher Grundlage die Wirtschaft aufgebaut werden soll.
„Wenn man [die Wirtschaft] lediglich auf niedrigen Löhnen basiert, dann werden die Unterschiede nur sehr langsam verringert. Aber das ist nicht der Plan der Kommission,“ betonte er. In diesem Sinne verwies er auf den EU Recovery Fund und die Empfehlung der EU-Exekutive, die Mitgliedsstaaten sollten diese Mittel nutzen, „um in grüne und digitale Technologien“ sowie in Bildung und Humankapital zu investieren.
Dies müsse auch mit steigenden Löhnen einhergehen, so der Luxemburger. Ansonsten gäbe es nur wenig Anreize, Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen anzunehmen.
Auf die Frage eines ungarischen Journalisten, ob es letztlich das Ziel sei, einen einheitlichen Mindestlohn in der gesamten EU zu etablieren, reagierte Schmit energisch: „Nein, das ist nicht der Fall. Wenn in Bulgarien ein luxemburgischer Lohn gezahlt würde, würde das die Wirtschaft in Bulgarien zerstören. Dann gäbe es morgen keine bulgarische Wirtschaft mehr.”
Er bekräftigte daher ausdrücklich: „Wir versprechen nicht den gleichen Mindestlohn für alle Europäerinnen und Europäer. Wir werden keinen einheitlichen Mindestlohn für ganz Europa einführen. Dies wäre einfach nicht realistisch; es wäre völlig unmöglich; es wäre unverantwortlich. Was wir wollen, ist eine bessere Konvergenz – also die Verringerung der Unterschiede, die allgemeine Verbesserung der Löhne, die Schaffung einer positiven Dynamik rund um den Mindestlohn und die Löhne im Allgemeinen.“
Vorbehalte im Norden
Die nordischen Länder, in denen Tarifverhandlungen fest institutionalisiert sind, stehen dem Vorschlag der Kommission derweil eher skeptisch gegenüber. Dort wird befürchtet, Mindestlöhne könnten die von den Gewerkschaften erzielten Erfolge und Tarifverträge langfristig rückgängig machen.
Schmit betonte daher, man beabsichtige nicht, das Tarifverhandlungssystem zu schwächen.
Es brauche vielmehr „objektive Kriterien“, um einen gerechten Mindestlohn festzulegen. Zu diesen Kriterien zählt die Kommission offenbar die steigende Ungleichheit sowie den Fakt, dass die Armut trotz Erwerbstätigkeit in der EU von 8,3 Prozent im Jahr 2007 auf 9,4 Prozent im Jahr 2018 angestiegen ist. Mit der aktuellen Pandemie-Situation könnte sich diese Entwicklung weiter verschärfen.
Angedachte Maßnahmen
Der Vorschlag der Kommission umfasst sechs politische Maßnahmen für alle 27 Mitgliedstaaten sowie vier zusätzliche Maßnahmen für die 21 Regierungen mit einem gesetzlichen Mindestlohn. Ziel sei es, Transparenz bei der Lohnfestsetzung, die Einbeziehung der Sozialpartner und eine an der Produktivität orientierte Lohnentwicklung zu gewährleisten.
Mit der Richtlinie würden die Mitgliedsstaaten aufgefordert, gewisse Indikatoren zur Messung der „Angemessenheit von Mindestlöhnen“ zu verwenden. Diesbezüglich werden beispielsweise 60 Prozent des Bruttomedianlohnes oder 50 Prozent des Bruttodurchschnittslohnes als potenzielle Indikatoren bei dieser Bewertung vorgeschlagen. Die EU-Exekutive wolle diese Indikatoren jedoch nicht als festgelegte Ziele „vorschreiben“.
Ein weiteres Ziel sei eine Situation, in der mindestens 70 Prozent der Arbeitnehmenden durch Tarifverhandlungen „abgedeckt“ werden, um so angemessene Mindestlöhne zu gewährleisten.
Kommissionsbeamte räumten bereits ein, die Rechtsgrundlage für den Vorschlag sei zumindest „komplex“: Die Mitgestaltungsmöglichkeiten der EU in diesem Bereich seien rechtlich begrenzt.
Dennoch habe sich Brüssel – auch mit Blick auf „das starke politische Engagement“ von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in diesem Bereich – für eine Richtlinie mit gemeinsamen verbindlichen Grundsätzen für alle Mitgliedsstaaten beim Thema fairer Mindestlohn entschieden, so Schmit.
[Bearbeitet von Zoran Radosavljevic und Tim Steins]