„Der Kampf gegen den Klimawandel nimmt endlich ein Eigenleben an“

Domenico Siniscalco war Autor des Klimaberichts des Weltklimarats 2001. Aktuell ist er Vize-Vorsitzender von Morgan Stanley. [Photo: EPA/MAURIZIO BRAMBATTI}]

Der ehemalige italienische Finanzminister Domenico Siniscalco ist überzeugt, dass nachhaltige oder „grüne“ Finanzierungen immer beliebter werden und somit der Schlüssel zu einer wirksamen Bekämpfung des Klimawandels darstellen werden. Auch der neue italienische EU-Kommissar Paolo Gentiloni dürfte dabei eine entscheidende Rolle spielen.

Domenico Siniscalco war in den Jahren 2004 und 2005 italienischer Finanzminister. Der studierte Ökonom ist außerdem Autor des Klimaberichts des Weltklimarats (Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC) aus dem Jahr 2001. Aktuell ist er Vize-Vorsitzender von Morgan Stanley.

Siniscalco sprach mit Sam Morgan von EURACTIV.com.

Das öffentliche Bewusstsein für die Probleme des Klimawandels dürfte einen riesigen Sprung gemacht haben, seit Sie 1989 mit der Arbeit an diesem Thema begonnen haben. Glauben Sie, dass es im Business-Bereich ähnlich große Fortschritte gab?

Ich glaube jedenfalls, dass sich nach den vielen Jahren, in denen der Klimawandel von Regierungen und Bewegungen eher von „oben nach unten“ behandelt wurde – mit recht bescheidenen Ergebnissen – die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft nun dramatisch verändern. Das wird von drei großen grundlegenden Veränderungen angetrieben. Der erste davon ist eine Änderung der Einstellungen: Vor allem junge Menschen, aber auch Menschen im Business-Bereich, haben heute ganz andere Ideen und Vorstellungen, wenn es um Umweltverpflichtungen geht. Diese Veränderung können Sie überall beobachten und miterleben.

Der zweite Punkt ist die Technologie. Wir erleben eine Welle von neuen Technologien, bei denen es sich um Elektrifizierung und erneuerbare Energien in der Stromerzeugung dreht. Die daran beteiligten Unternehmen schlagen sich aktuell viel besser als traditionelle Versorgungsunternehmen. Sobald es einen wachsenden Prozentsatz an sauberem Strom gibt, muss man alles elektrisieren, was möglich ist. Und das passiert ja bereits. Im Verkehrsbereich verlagert sich der Trend sehr schnell in Richtung Elektrizität. Und überraschenderweise ist dabei vor allem China sehr gut aufgestellt und allen anderen voraus. Es wird auch in Zukunft einen kleinen Teil der Schwerindustrie geben, der immer noch auf fossile Brennstoffe angewiesen ist. Aber alle anderen Produktionsbereiche können sich auf Elektrizität verlagern.

Der dritte Teil dieser großen Veränderungen ist die Finanzierung. Es gibt heute 31 Billionen Dollar an nachhaltigen Vermögenswerten; das ist ein Wachstum von 34 Prozent in den letzten drei Jahren. Es ist erstaunlich, wie sich die Dinge verändert haben. Und deswegen kann man sagen: Wir haben die Mittel für einen grundlegenden Wandel.

Ein Boost für das grüne Finanzwesen

Die sogenannte Technische Expertengruppe für nachhaltige Finanzanlagen hat drei Berichte über Klassifizierungen, Standards für grüne Anleihen und Klimaindikatoren veröffentlicht.

Wie wichtig war das Pariser Klimaabkommen in dieser Hinsicht?

Für mich sind Dekarbonisierung und Klimaschutz ein Trend, bei dem es verschiedene Meilensteine gibt. Kyoto war einer; Paris der nächste. Aber keiner dieser beiden ist letztendlich entscheidend. Es ist ein kontinuierlicher Prozess des Wandels in Technologie, Finanzen und [persönlichen] Präferenzen.

Nichts gegen Paris – das war gut! Aber man sollte das alles nicht verklären, denn es ist immer noch ein langer Weg. Der Kampf gegen den Klimawandel folgt weiterhin dem Prinzip des Trial-and-Error; aber das Ganze nimmt endlich ein Eigenleben an.

Sie selbst waren einer der Autoren des IPCC-Berichts 2001, für den 2007 der Friedensnobelpreis vergeben wurde. Auch der IPCC-Bericht vom vergangenen Jahr wurde als „wegweisend“ bezeichnet, weil darin die Auswirkungen der Erderwärmung überaus deutlich dargelegt werden. In gewisser Weise haben Sie eine solche Entwicklung bereits vor fast 20 Jahren vorhergesehen. Stellt sich da ein Gefühl von „Ich hab’s euch doch gesagt“ ein?

Nein. Das Tolle am IPCC ist doch, dass er zur Veröffentlichung und vereinfachten Verbreitung von Informationen aus zahlreichen Quellen beiträgt. Wenn Greta Thunberg sagt, dass man auf die Wissenschaft hören soll, dann meint sie die Wissenschaft des IPCC. Und: Jahr für Jahr ändern sich diese Berichte. Das wirklich große Verdienst ist, dass das IPCC die Klimawandel-Leugnung zurückgedrängt und marginalisiert hat, während es sich gleichzeitig auf potenzielle Kosten, Nutzen und Auswirkungen konzentriert. Die jüngsten Berichte sind interessant, weil sie thematisch ausgerichtet sind. Sie tauchen tief ein in das, was wirklich wichtig ist. Aber auch dies darf man nicht ungefragt für unumkehrbare Wahrheit nehmen, denn die Wissenschaft verändert sich ständig. Der Bericht ist eine Möglichkeit, eine aktuelle Bestandsaufnahme der Forschung vorzunehmen und diese zu vermitteln. Die Zahlen werden sich ändern – und das ist auch gut und gesund so. Denn die Forschung entwickelt sich ständig weiter.

Die Europäische Investitionsbank (EIB) hat kürzlich ihre Kreditvergabe-Politik aktualisiert. Künftig sollen keine Projekte mit fossilen Brennstoffen gefördert werden; stattdessen gehen mehr Kredite an „grüne“ Investitionen. Für wie wichtig halten Sie dieses Signal?

Sehr wichtig! Wenn Sie ein großes Projekt verfolgen, finanzieren Sie es über eine Vielzahl an Instrumenten. Diese Segmente müssen vollständig aufeinander abgestimmt sein. Und jetzt ist klar: Wenn Sie EIB-Finanzierungen wünschen, müssen Sie nachhaltigkeitskonform und in Übereinstimmung mit den SDGs handeln. Dies wird den gesamten Prozess der Finanzierung in diese Richtung ziehen.

Auch die Aufgaben des neuen italienischen Kommissars Paolo Gentiloni werden in diesem Bereich wichtig sein. Unternehmen reagieren auf Anreize. Wenn also die Nachfrage, die EIB und die politischen Entscheidungsträger alle in eine bestimmte Richtung gehen, dann wird alles in diese richtige Richtung gehen.

Nachdem ich das gesagt habe: Bei der Energiewende müssen dennoch alle Energiequellen einbezogen werden.

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Ist der Fakt, dass Gentiloni auch für die Umsetzung der globalen Entwicklungsziele (SDGs) zuständig sein wird, wichtig für die „Fortschrittlichkeit“ der neuen Kommission?

Absolut wichtig. Wenn ich an meine Tage als Berater der italienischen Regierung und der Europäischen Kommission zurückdenke – oder als ich Finanzminister war – war auch schon damals ziemlich offensichtlich, dass die Umwelt auch in anderen Politikbereichen berücksichtigt werden muss. Die Tatsache, dass Paolo dieses Portfolio nun auch mit Blick auf die SDGs betreibt, ist wichtig. Ich kenne Paolo sehr gut. Er ist ein kluger, mitfühlender Kerl, der sich viel mit diesem Thema beschäftigt. Wir haben in den 1990er und frühen 2000er Jahren gemeinsam daran gearbeitet. Mir fällt niemand besseres ein, um diese Agenda voranzutreiben.

Anders gefragt: Sollte die Kommission vielleicht einen oder eine Kommissarin haben, die sich ausschließlich mit den SDGs befasst?

Das finde ich eigentlich nicht. Das Thema sollte nicht getrennt von der wirtschaftlichen Entwicklung behandelt werden. Wir müssen die SDGs integrieren; wir müssen verstehen, dass der Klimawandel und – ganz allgemein – die Umweltpolitik eine von vielen Dimensionen der menschlichen Entwicklung ist. Separat behandelt, wird Klimapolitik immer eine „Luxuspolitik“ bleiben. Klima und Energie sind aber die wirklichen Wachstumspotenziale für die Zukunft.

Sprechen wir doch noch mehr über diese Verknüpfungen: Kürzlich wurden neue Vorstöße bei der Vergabe von Anleihen im Zusammenhang mit den SDGs unternommen. Wäre das ein Instrument die Zukunft der Finanzwelt?

Eine von Morgan Stanley vermittelte SDG-Anleihe hat in Italien tatsächlich großes Interesse geweckt. Sie ist wie eine bedingte Anleihe strukturiert: Das heißt, dass Sie immer eine bestimmte Rendite erhalten. Und wenn das Unternehmen beispielsweise sein Ziel für erneuerbare Energien nicht erreicht, erhalten die Investoren sogar eine höhere Vergütung. Das ist äußerst innovativ.

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Das Abwasserprojekt Thames Tideway in London wird zumindest zum Teil durch sogenannte „grüne Anleihen“ finanziert. Wenn mehr große Infrastrukturprojekte wie diese in ähnlicher Weise finanziert werden: Wäre dies die Art und Weise, wie nachhaltige Finanzierungen wirklich Früchte tragen und zur Norm werden könnten?

Solche Best Practices sind sehr wichtig. Ein wirklicher „Lawineneffekt“ bei SDG-Bindungen würde die Finanzlandschaft dramatisch verbessern. So würden den Unternehmen, die sie ausstellen, Anreize gestellt, ihre eigenen Ziele auch wirklich zu erreichen. Die Gefahr, auf die wir dabei achten müssen, ist allerdings das Greenwashing; also das Vortäuschen eines ökologischen Ansatzes. Wir brauchen außenstehende Dritte, die prüfen können, ob diese Ansätze wirklich legitim sind. Manchmal wird das aber auch überflüssig sein, weil die Ergebnisse greifbar sind. Zum Beispiel, wenn ein Unternehmen einen größeren Anteil an erneuerbaren Energien im Energiemix vorweisen kann.

Könnten solche unabhängigen Überprüfungen von EU-Institutionen durchgeführt werden?

Das würde Sinn ergeben. Aber ich glaube auch an die Rating-Systeme des privatwirtschaftlichen Sektors.

Was wäre Ihrer Meinung nach der nächste große Meilenstein in der Klimapolitik?

Ich denke, die politischen Prozesse sind in dieser Hinsicht wie Flüsse, die manchmal ober- und manchmal unterirdisch verlaufen: Es ist sehr schwer vorherzusagen, wie es genau weitergeht. Ich glaube, es wäre naiv, davon auszugehen, dass Tragödien wie kürzlich in Venedig tatsächlich zu einem kompletten Umdenken führen.

Ich möchte mich hinsichtlich der Geschwindigkeit, mit der sich Veränderungen beim Klimabewusstsein ändern, deswegen auch gar nicht äußern. Aber die Richtung ist sehr, sehr eindeutig.

[Bearbeitet von Zoran Radosavljevic und Tim Steins]

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