„Settled Status“: Das persönliche Brexit-Problem

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Für die britische Regierung und für Aktivisten ist eine der größten Herausforderungen mit Blick auf den Brexit aktuell, EU-Bürgerinnen und -Bürger im Vereinigten Königreich darauf aufmerksam zu machen, dass sie den sogenannten „Settled Status“ beantragen müssen, wenn sie dauerhaft im Land bleiben wollen. Die Sensibilisierung erweist sich als deutlich schwieriger, als viele in der Regierung erwartet haben.

„Wir wussten sehr früh – und informierten die Europäische Kommission – dass es nicht einfach für alle werden würde,“ sagt hingegen Chris Desira, ein Immigrationsanwalt und Vorsitzender der Kanzlei Seraphus, die die Europäische Kommission in Bezug auf das sogenannte „EU Settlement Scheme“ des Vereinigten Königreichs berät.

Und während auch das Innenministerium zusammen mit dem Rest der britischen Regierung die öffentliche Kommunikation über die Veränderungen, die der Brexit mit sich bringen wird, inzwischen intensiviert hat, gibt es immer noch eine Reihe von „toten Winkeln“. Im Falle des „Settled Status“-Systems für EU-Bürgerinnen und -Bürger geht es den staatlichen Behörden dabei ebenso sehr um die Verteidigung des Systems wie darum, die Menschen darüber aufzuklären, wie sie es überhaupt beantragen und nutzen können.

Der Brexit rückt näher, die Angst geht um

Die Rechte der im Vereinigten Königreich lebenden EU-Bürger werden geschützt, hat die britische Regierung mehrfach versprochen. Aktivisten und auch Behörden sehen dennoch eine Reihe von Problemen beim „Settled Status“ aufkommen.

Desira organisiert seit über 18 Monaten Beratungsveranstaltungen mit Gemeindegruppen, die sich mit der Frage befassen, wie man den „Settled Status“ beantragen kann. Er selbst habe seit April an mehr als 200 solcher Treffen teilgenommen. Mit dem sich nun wirklich deutlich abzeichnenden Brexit habe es in den letzten Wochen einen „riesigen Anstieg“ bei Bewerbungen um den Status gegeben.

Darüber hinaus koordiniert das Büro der Europäischen Kommission in London seit 2016 ein Netzwerk der nationalen Botschaften im Vereinigten Königreich mit monatlichen Treffen und war aktiv an den Gesprächen mit dem Innenministerium beteiligt. Derweil haben die Botschaften ihre eigenen Unterstützungsnetzwerke entwickelt, Informationsveranstaltungen organisiert und Rechtsbeistand sowie mobile Stellen für die Beantragung von Reisepässen bereitgestellt.

Diese Unterstützung variiert allerdings von Community zu Community. So hat beispielsweise die italienische Regierung besonders enge Beziehungen zu ihren Expats.

Ansonsten ist vor allem die vom Londoner Bürgermeisterbüro eingerichtete Stelle ein wichtiger Anlaufpunkt. Dort werden Leitfäden zum Brexit- und Niederlassungsstatus in allen EU-Sprachen sowie auf Arabisch und Somali angeboten.

Dennoch bleibt die Beantragung ein komplizierter, teurer und zeitaufwendiger Prozess.

Kompliziert und teuer

„In unseren Workshops benötigen wir vier verschiedene Dolmetscher“, sagt beispielsweise Bianca Valperga, die bei der Lobbygruppe New Europeans mit dem Thema „Settled Status“ betraut ist. Sie fügt hinzu: „Es ist wirklich ziemlich ressourcenintensiv, eine solche Gruppe von Menschen gleichzeitig in einem Raum zu haben.“

Für kleinere Communities oder solche mit weniger Ressourcen sind die Probleme anderer Natur: „Eine Sache, die wir bei den Roma- und auch den Somalier-Communities feststellen, ist, dass die Gemeinschaften ihren etablierten Bezugspunkten vertrauen,“ sagt Tamsin Koumis von New Europeans. Dabei seien die Informationen aber oftmals nicht ausreichend. Es ist daher unklar, ob die Menschen aus diesen Gemeinschaften ausreichend mit dem „Settled Status“ und den notwendigen Anträgen vertraut sind.

Brexit: May sichert EU-Bürgern in Großbritannien Bleiberecht zu

Vor Beginn des EU-Gipfels in Brüssel hat die britische Premierministerin Theresa May den drei Millionen EU-Bürgern in ihrem Land ein Bleiberecht auch nach dem Brexit zugesichert.

Aus Sicht der Aktivisten sei insbesondere die Sensibilisierung von EU-Bürgerinnen und Bürgern schwierig, die die Rechte der Unionsbürgerschaft entweder durch Familien- oder Flüchtlingsstatus erworben haben. Bei dieser Gruppe sei weniger wahrscheinlich, dass sie bereits heute den Verlust von Rechtsansprüchen überblicken und verstehen, den der Brexit für sie bedeuten wird.

„Vor einem Jahr hätte ich gesagt, dass das Innenministerium einfach nicht in der Lage ist, zu liefern und zu informieren; vor drei Monaten war ich überrascht. Und jetzt bin ich wirklich besorgt,“ kommentiert Desira. „Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass sich da ein riesiger Antrags-Stau aufbaut.“

Das Innenministerium schätzt derweil, dass fünf bis zehn Prozent der Bewerberinnen und Bewerber Schwierigkeiten mit dem Antragsverfahren haben werden. Das klingt zunächst einmal nach nicht viel, könnte aber zu einer Gesamtzahl von 200.000 bis 400.000 Personen führen, warnen die Lobbygruppen. Eine solche Zahl sei mit dem derzeitigen Netzwerk der Regierung schlichtweg nicht zu bewältigen.

Auch die neun Millionen Pfund, die das Innenministerium für die Finanzierung von Projekten zur Verfügung stellt, die mit gefährdeten Communities zusammenarbeiten – und deren Programme im März nächsten Jahres auslaufen – sind „nicht sonderlich viel pro Kopf“, sagt Desira.

Darüber hinaus warnt er: „Viele Leute werden sich erst nach der eigentlichen Frist im Dezember 2020 bewerben. Wir erwarten, dass viele komplexe Fälle somit erst später auftauchen.“

Im September wurden 500.000 Anträge auf den „Settled Status“ eingereicht. Statistiken des Innenministeriums zeigen, dass bisher 1,8 Millionen Menschen einen Antrag gestellt haben; das ist nicht einmal die Hälfte der insgesamt im Vereinigten Königreich lebenden EU-Bürgerinnen und -Bürger.

Probleme absehbar

Neben den bereits bekannten Problemen gehen Beamte und zivilgesellschaftliche Aktivisten aber auch davon aus, dass mehrere tausend bisher „unsichtbare Europäer“ aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage sein werden, den Antrag bis Dezember 2020 abzuschließen.

Letzte Woche machte der konservative Innenminister Brandon Lewis deutlich, das Vereinigte Königreich werde EU-Bürgerinnen und -Bürger nach dem Brexit abschieben, wenn sie nicht rechtzeitig das Bleiberecht beantragen. Bei den Betroffenen ließ das die Alarmglocken schrillen und löst auch Entrüstung aus. Schließlich hatte die britische Regierung bisher immer beteuert, die Rechte von EU-Staatsangehörigen auch nach dem britischen EU-Austritt zu schützen.

Schotten wollen einen möglichst "wenig schlimmen" Brexit

Konfrontiert mit dem Brexit versuche die schottische Regierung nun, „die am wenigsten schlimme Option zu finden“, so die schottische Kultur- und Außenministerin Fiona Hyslop gegenüber EURACTIV.

Die Oppositionsparteien fordern die Regierung bereits auf, die aktuelle Frist bis Dezember 2020 zu überdenken.

Ben Macpherson, Migrationsminister in der schottischen Regierung, forderte vergangene Woche auf einem SNP-Parteitag in Aberdeen, der „Settled Status“ für EU-Bürgerinnen und -Bürger, die auch nach dem Brexit in Großbritannien leben wollen, sollte zugunsten eines Registrierungsverfahrens ohne Enddatum aufgehoben werden.

Ähnlich haben eine Reihe von Kampagnengruppen die Einführung einer „Green Card“ gefordert, um Regierungsbehörden und anderen Institutionen so auf einfache Weise deutlich zu zeigen, dass ein EU-Staatsangehöriger das Recht hat, im Vereinigten Königreich zu bleiben.

Doch selbst wenn die britische Regierung die Frist über Dezember 2020 hinaus verlängert, dürfte es immer noch viele Gründe geben, sich über den Prozess des Erwerbs des „Settled Status“ zu ärgern, findet Desira.

Seiner Ansicht nach sei es mit dem aktuellen System „unvermeidlich“, dass einige EU-Bürgerinnen und -Bürger im Endeffekt und allen Bekundungen zum Trotz abgeschoben werden.

[Bearbeitet von Zoran Radosavljevic und Tim Steins]

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