Die Flüchtlingskrise und die Staaten des westlichen Balkans

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Flüchtlinge in Kroatien im Oktober 2015. [Foto: dpa]

Der westliche Balkan gewann durch die Flüchtlingsströme 2015 deutlich an internationaler Aufmerksamkeit. Für die Westbalkanstaaten ist eine Einbindung in europäische Lösungsansätze für den Umgang mit Flüchtlingen dringend notwendig.

Hunderttausende Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten und Afrika führten Europa die Kriege und Krisen der Welt direkt vor Augen. Etwa eine Million Migranten landete in diesem Jahr an Europas Mittelmeerküsten, mehr als dreieinhalb tausend Menschen ertranken dabei während der Überfahrt. In der ersten Jahreshälfte verschob sich der Hauptstrom der Flüchtenden von der zentralen Mittelmeerroute auf die Balkanroute über Griechenland, Mazedonien, Serbien und Ungarn. Nachdem Ungarn seine Südgrenzen hermetisch schloss wanderten die Menschen bald über Kroatien und Slowenien nach Mitteleuropa. Auf dieser Route zogen 2015 wohl schon mehr als eine halbe Million Menschen, teils bis zu zehntausend Neuankömmlinge täglich.

Regionale Beziehungen

In den Staaten entlang der Balkanroute entstanden anfangs erhebliche Spannungen zwischen Nachbarstaaten: Zunächst gab es heftige Auseinandersetzungen zwischen Ungarn und Serbien, die sich später vor allem zwischen Kroatien und Serbien fortsetzten und verstärkten. So blockierte Kroatien die serbische Grenze, nachdem Belgrad Flüchtlinge unangekündigt an die kroatische Grenze gebracht hatte. In Serbien rekurierte die populistische Regierung auf den Zweiten Weltkrieg und warf Kroatien faschistische Methoden vor. Ein kleiner Handelskrieg entspann sich, der jedoch nach fünf Tagen beigelegt werden konnte.

Seit Oktober nun betonen beide Seiten die Notwendigkeit der Zusammenarbeit. Der ansonsten nicht zimperliche serbische Innenminister betonte Ende Oktober gar gegenüber seinem kroatischem Kollegen: „Migranten kommen und gehen, Nachbarn aber bleiben.“ Entgegen den Warnungen der deutschen Kanzlerin oder jenen des serbischen Premiers drohte auf dem Balkan in diesem Jahr kein zwischenstaatlicher Krieg. Nur zum Vergleich nannte auch der bayerische Innenminister Österreich in dem Zusammenhang rücksichtslos, unverschämt und Chaos produzierend. Der Bedarf an pragmatischer zwischenstaatlicher Kooperation bezwang auf dem Westbalkan letztlich klar die Verlockungen konfrontativer Rhetorik.

Die EU wurde in der Flüchtlingskrise spät und zaghaft tätig. Bis heute fehlt die Umsetzung wichtiger Beschlüsse. In dem Zusammenhang verlor gerade in Südosteuropa zunehmend an Bedeutung, ob ein Land EU-Mitglied war oder nicht, zum Schengen-Raum gehörte oder nicht. Ungarn baute Zäune sowohl an Binnen- als auch Außengrenzen der EU und suchte stärkere Kontakte in der aufgewärmten Visegrád-Gruppe, von wo man alle Ansätze einer europäischen Lösung torpedierte. Auf der anderen Seite kristallisierte sich trotz Annäherungen der kroatischen Nationalkonservativen an Ungarn nach und nach eine Zusammenarbeit zwischen Slowenien, Kroatien, Serbien und Mazedonien heraus. Die geteilten Erfahrungen, aber auch der Mangel an Koordinierung aus Brüssel machten dies möglich und nötig.

In vorauseilender Angst vor Grenzschließungen Österreichs, Deutschlands, Schwedens und Dänemark errichteten die meisten Balkanländer von Oktober bis Dezember eigene Zäune entlang ihrer östlichen und südlichen Grenzen. Lösen Zäune kein Flüchtlingsproblem, kann man sie den überforderten Staaten des westlichen Balkans jedoch kaum vorwerfen. In vielen Staaten Südosteuropas grassierte die Befürchtung, zum vernachlässigten und strategisch instrumentalisierten Hinterhof, zur Pufferzone Westeuropas zu werden – ein in der Region leicht zu reaktivierendes historisches Motiv. Aus einer solchen Befürchtung heraus und offensichtlich in Absprache mit Slowenien, Kroatien und Serbien verweigert Mazedonien seit Ende November sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge die Einreise von Griechenland.

Neuerliche EU-Annäherung

Angesichts der Flüchtlingskrise sowie der angespannten Beziehungen zu Russland, aber auch zur Türkei bemühte sich die EU seit Sommer vermehrt um eine aktivere Politik auf dem Westbalkan. Vor allem gegenüber Serbien erneuerte man die Beitrittsperspektive, deren Anreize in der Bevölkerung und der politischen Klasse im letzten Jahrzehnt deutlich an Kraft verloren hatten. Vu?i?s Serbien nutzte dabei auch den jüngst erlangten Prestigegewinn – durch seine weithin gelobte OSZE-Präsidentschaft 2015 sowie seine konzilliante Haltung in der Flüchtlingsfrage. So erhöhte Belgrad selbst den Druck auf die EU. Der serbische Außenminister forderte im September öffentlich, die Beitrittsgespräche noch in diesem Jahr zu beginnen.

Lang erwartet und am Ende nur noch wenig rezipiert eröffnete die EU Anfang dieser Woche die ersten Kapitel der Beitrittsverhandlungen mit Serbien. Unzweifelhaft stand der Beginn auch im Zusammenhang mit den zahlreichen internationalen Krisen der letzten beiden Jahre, die schrittweise zu einem Umdenken in Brüssel führten.

Auch im Falle von Kosovo und Bosnien-Herzegowina mehren sich seit diesem Jahr die Stimmen, die Brüssel auffordern, die Beitrittsprozesse spürbar voranzubringen. Eine klare Beitrittsperspektive fehlt für beide Staaten weiterhin. Der amtierende kroatische Präsident Bosnien-Herzegowinas erklärte jedoch in dieser Woche entschlossen, sein Land werde im Januar die Mitgliedschaft in der EU beantragen. Für Kosovo war eine in Aussicht gestellte Liberalisierung des Visaregimes der EU dagegen für dieses Jahr abgesagt worden.

Gelten die Verträge von Dublin lang als gescheitert, scheint die Verteidigung des Abkommens von Schengen nun den westlichen Balkan en passant zu integrieren. Im Oktober wurden Westbalkanstaaten EU-Mittel zur Grenzsicherung versprochen. Nun setzt die EU auf einen Ausbau der Kapazitäten und Befugnisse von Frontex, deren Kräfte auch in Nicht-EU-Ländern wie Serbien und Mazedonien eingesetzt werden könnten. Sofern die Länder dem zustimmen, wäre dies eine erste zwar nur sicherheitspolitische, aber doch konkrete und integrierende Unterstützung der Westbalkanländer.

Umgang mit Flüchtlingen

Obwohl sich der Flüchtlingsstrom seit langem andeutete traf er die Gesellschaften des westlichen Balkans in diesem Jahr weitgehend unvorbereitet. Als Ungarn bereits an seinem Grenzzaun nach Serbien baute, schien sich in Kroatien kaum einer auf das Unausweichliche vorzubereiten. Dennoch waren die Reaktionen der Bevölkerung Kroatiens und Sloweniens auf die ankommenden Flüchtlinge überwiegend positiv. Sie rührte dabei auch aus dem Ärger über die offizielle ungarische Haltung.

Vielerorts spendeten Menschen entlang der Balkanroute den Flüchtenden Essen, Kleidung, Unterkunft oder halfen bei der Weiterreise, auch weil Flucht und Zwangsmigration vielen aus den 1990er Jahren noch gut in Erinnerung war. Mehrheitlich betrachtete die Öffentlichkeit auf dem Balkan im Gegensatz zu Ungarn oder der Slowakei das Flüchtlingsthema als europäische Aufgabe, wobei auch kaum jemand in Betracht zog, die Flüchtlinge könnten dauerhaft bleiben. Südosteuropa ist selbst seit Jahrzehnten Herkunftsregion von Auswanderern nach Nordwesten. So erreichte 2015 auch die Auswanderung aus dem Westbalkan einen Höhepunkt. Bereits fast vergessen scheint, dass allein dieses Jahr über 110.000 Albaner und Kosovaren, Serben und Mazedonier in Deutschland Asyl beantragten und damit Platz zwei, drei, sechs und acht der deutschen Statistik einnahmen.

Seit den Anschlägen von Paris verstärken auch Staaten wie Montenegro und Bosnien ihre Grenzkontrollen, andere wie Serbien intensivieren die Registrierung an den Grenzen. Abgesehen vom mazedonischen Premier Gruevski brachte jedoch kaum ein höherer Politiker die Flüchtlinge pauschal in die Nähe von islamistischen Terroristen. Auch unterblieb antimuslimische Rhetorik in den Diskursen über Flüchtlinge weitgehend, wobei die Angst vor einer Radikalisierung innerhalb der südosteuropäischen muslimischen Gemeinschaften im Hinblick auf den IS weiter zunahm.

Es ist nicht zu erwarten, dass der Strom von Flüchtlingen bald deutlich nachlässt. Für die Westbalkanstaaten ist daher eine Einbindung in europäische Lösungsansätze für den Umgang mit Flüchtlingen dringend notwendig.

Der Autor

Dr. Heiner Grunert ist Südosteuropa-Historiker aus München.

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